Urlaub auf Utopia

29. April 2018 - Christina Weidl

In „Utopia“, dem neuen Stück am ETA Hoffmann Theater, werden verschiedenste Gedanken zu einer idealen Welt präsentiert und Gesellschaftsentwürfe gegenübergestellt.

Die Bremer Stadtmusikanten erklimmen die Bühne. Um über „Marx und Lenin und den ganzen Scheiß“ zu diskutieren und darüber, dass alles doch schon einmal da gewesen sei und nicht noch einmal aufgewärmt werden müsse. Oder doch? Esel, Hund, Katze und Hahn werden unterbrochen, als eine Bücherflut vom Himmel stürzt.

"Alles, was gesagt werden muss wurde längst gesagt, aber weil niemand zugehört hat, müssen wir alles noch mal sagen."

Auferstanden aus Ruinen sind auf der Insel Utopia alle gleich und bestellen in uniformen Leinenanzügen das ihnen zugeteilte Land. Oder doch lieber Kapitalismus? Da gibt es wenigstens Glitzer und Lippenstift. Zwischendurch erzählt ein fröhlicher Hans im Glück in Unterhose, wie ihm der Mühlstein in den Brunnen beziehungsweise das Handy in die Regnitz gefallen ist. Kinder wünschen sich Frieden auf Erden und ein Eis und hin und wieder taucht eine Sternschnuppe auf.

Die Darsteller zitieren große Denker aus Geschichte und Gegenwart in ihrem Bemühen, eine ideale Gesellschaft, eine Utopie zu erschaffen. Seien es Karl Marx und Friedrich Engels, die Brüder Grimm oder Friedrich Hölderlin. All den großen Gedanken zu folgen, die in schneller Folge aufeinanderprallen, ist für den Zuschauer durchaus anstrengend. Kaum wird eine Utopie vorgestellt, wird sie schon wieder hinterfragt. Etwas zu viel Input, um wirklich nachdenklich zu stimmen. Die Gesangseinlagen zwischendurch bieten eine willkommene Auflockerung und reichen von Johannes Brahms bis zu Hildegard Knef und Katja Ebstein. Das Ensemble gibt alles, singt, musiziert, tanzt und schlüpft in schneller Folge in verschiedenste Rollen und Kostüme. Trotzdem dauert es, sich in das Stück einzufinden, und gerade im ersten Teil erscheinen all die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Themen als schwere Kost, vor allem drei Stunden lang. 

„Etwas Besseres als den Tod finden wir überall.“Die Bremer Stadtmusikanten

Doch dann geschieht etwas, und man achtet nicht länger auf die Zeit. Weg von historischen Gesellschaftsentwürfen beginnen die Darsteller, ideale Welten zu erschaffen, immer der Frage auf der Spur, wie Utopien gelingen können und wem sie nutzen. Und allmählich wird klar: Es geht nicht darum, Antworten zu finden, sondern vielmehr um die Notwendigkeit, zu hinterfragen.  Liegt die Zukunft in einer künstlichen Welt oder doch eher in der Erkenntnis, dass alle Menschen Künstler sind? Ist Intelligenz wichtiger als Bewusstsein oder brauchen wir ein empathischeres Miteinander? Kann Gleichheit freimachen oder Freiheit gleich und wie schaffen wir es, keine Angst mehr zu haben? Oder ist es doch am wichtigsten, die Wale zu retten? Gandhi singt: „Für mich soll es Rote Rosen regnen“, und einem Darsteller gelingt es tatsächlich, der Schwerkraft und dieser Welt zu entfliehen.

„Wir leben in einer Zeitperiode, wo alles hinarbeitet auf bessere Tage.“ Friedrich Hölderlin

Utopien zu schaffen, bedeutet, Grenzen zu überwinden und das gelingt in dem Stück auf mehreren Ebenen. Ein Großteil des Geschehens spielt sich am vorderen Rand der Bühne ab, hin und wieder auch im Zuschauerraum, die Darsteller sprechen sich mit Vornamen an. Gekonnt verwischt Regisseur Stefan Otteni die Grenze zwischen Spiel und scheinbarer Realität. Spätestens nach der Pause, wenn die Darsteller direkt mit dem Publikum interagieren, einen Kanon einstudieren und Hüte verteilen, um ein Grundeinkommen einzusammeln, springt der Funke endgültig über. Das Spiel der Darsteller wird immer ausgelassener, auf einer Oscar-Verleihung plädieren zwei Schauspielerinnen für Gleichheit der Geschlechter, anschließend wird im Abendkleid K.I.Z. gerappt, Bamberg versinkt in einem aphrodisierenden Nebel, der die Einwohner zu spontanen Massenorgien animiert, und Karl Marx singt in einer Musicaleinlage „Forever Young“. Zum Schluss dann noch die frohe Botschaft von Sänger Peter Licht: Der Kapitalismus ist endlich vorbei!

„So glücklich wie ich gibt es keinen Menschen unter der Sonne. Ich bin endlich frei und gehe meiner Wege.“ Hans im Glück

Es ist ein überbordendes Stück, das von seinen energiegeladenen Darstellern lebt, denen die Spiellust anzusehen ist. Ronja Losert und Stephan Ullrich gewinnen selbst vielzitierten Ansprachen wie der Bergpredigt oder der berühmten Rede Martin Luther Kings neue Aspekte ab, Marie Nest lässt sich auch auf Krücken nicht stoppen und vor allem Bärbel Schwartz, die auch die musikalische Leitung innehat, sorgt auf Klavier, E-Gitarre, Schlagzeug oder Kontrabass für die richtige Stimmung.

Es ist auch ein etwas anderes Stück, dass sich zwar ein wenig bemüht anlässt, aber konstant an Fahrt gewinnt, sehenswert für alle, die Lust auf Experimente haben.

Und noch einmal zum Grundeinkommen: 166,90 € sind zusammengekommen, von denen sich nach der Vorstellung jeder nehmen kann, so viel er will. Gilt das auch schon als wahrgewordene Utopie?

 

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