You MUST write! - Theaterkritik ANICULA

17. Januar 2020 - Anna Hench

Am 16. Januar war in den Haas-Sälen die einmalige Theaterproduktion anicula zu Gast. Einmalig unter anderem deshalb, weil sie nur an diesem einen Abend in Bamberg zu sehen war. Die als Kooperation der ArtiSchocken Nürnberg mit dem Russischen Theater Nürnberg und dem Theater MostY Erlangen realisierte Produktion zeigt eine Bearbeitung der Erzählung „Die Alte“ von Daniil Harms in russischer Sprache mit deutschen Untertiteln.

Anicula wird als eine „komische Tragödie“ untertitelt und erzählt die Geschichte eines namenlosen Genies. Dieses Genie manifestiert sich in der Figur eines ebenso namenlosen Schriftstellers im Russland des Jahres 1939. Die Kriegstreiberei der Nationalsozialisten übersät das Land mit Toten, man hört die Parolen Hitlers bis nach Sankt Petersburg und die Gefahr durch Fliegerbomben versetzt die Bevölkerung in Angst und Schrecken. Besonders das Genie, das im Laufe des Abends auch schizophrene Eigenschaften zeigt, wird durch den Krieg erschüttert. Seine Reflexionen über die Unerträglichkeit der Gegenwart kicken ihn immer wieder in panische Agonie, die allein durch das Schreiben gemildert werden kann. Seine Gedanken stehen ihm in der physischen Form zweier Frauen bei, die ihn beruhigen und ankleiden, aber gleichzeitig auch mit ihren provokativen Reden dem Wahnsinn in die Hände schubsen.

Kurz nach – oder vielleicht sogar bei? – der Geburt des Genies steht eine alte Dame im Raum. Sie ist in ein abgewetztes Gewand ähnlich einer griechischen Toga und ein dunkles Kopftuch gekleidet, aber wer ihr fürchterliches Gesicht erblickt, erschrickt halb zu Tode. Sie sagt dem Genie ein paar wenige Sätze und liegt ab diesem Zeitpunkt tot in seinem Zimmer. Ob sie ihn damit zum Genie erhoben oder verdammt hat, kann man unmöglich sagen. Jedenfalls liegt sie da und das Genie muss sie beseitigen, denn er hat sich in das wunderbarste aller Mädchen verliebt und möchte sie gern auf einen Wodka zu sich nach Hause einladen. Aber er traut sich nicht an die Leiche heran, selbst mit einem Schläger bewaffnet übermannt ihn der Horror vor der Toten. Tote sind keine gute Gesellschaft; wenn man nicht auf sie aufpasst, dann brechen sie aus und fressen die Frühgeburt von verstörten Schwangeren. So erzählen es ihm seine Gedanken.

Schließlich überwindet er seine Angst und packt die Tote in einen großen Schrankkoffer, um sie außerhalb der Stadt im Sumpf zu versenken. Doch am Bahnhof wird ihm der Koffer geklaut und er sieht sein Schicksal endgültig besiegelt. Niemand wird ihm glauben, dass er die Alte nicht selbst umgebracht hat, seine Liebe zu dem wunderbarsten aller Mädchen ist aussichtslos. Somit nimmt er allein den Zug in den Sumpf und übergibt sich dort dem Tod. So weit die erzählte Geschichte.

Sobald man den Pfad des sicher Benennbaren jedoch verlässt, ist diese Produktion kaum noch zu beschreiben. Denn diesen Abend trägt nicht der rote Faden der Erzählung, sondern die ebenso schauderhafte wie anziehende Ästhetik der Inszenierung. Das Genie wird aus der kalten Erde geboren, in welcher zuvor die Gebeine der Gefallenen beerdigt wurden. Die Gedankenfrauen sind von lebendigen Schauspielerinnen verkörperte Figuren, aber sie ähneln mehr und mehr Geistern, welche die Sonne und den Mond in einem Einkaufsnetz tragen können. Wenn sie die Toten verkörpern von denen erzählt wird schlagen sie ihre Zähne so animalisch in die Wäscheberge und Kinderpuppen, dass man glaubt, man stehe den Toten leibhaftig gegenüber. Der Freund des Genies, Sekardon, scheint zwei Persönlichkeiten in einer Figur zu sein, denn er wird von zwei Schauspielern zugleich dargestellt. Und dann ist da Anicula - der Dreh- und Angelpunkt der Geschichte. „Anicula ist die uralte Kraft, die Göttin des Schicksals, die ewige Alte“, so wird sie auf dem Flyer der Produktion beschrieben. Sie ist zweifellos das Schicksal des Genies. Aber hat sie ihn verflucht, oder erlöst? Ist sie wirklich das Grauen, als welches sie dargestellt wird? Ist sie wirklich tot – oder hat sie jemals gelebt?

Beantwortet hat das Stück diese und viele andere Fragen, die es aufgeworfen hat, nicht. Aber es hat die Geschichte des Genies und des Schicksals auf eine so eindrucksvolle und berührende Art und Weise erzählt, dass sie nicht mehr aus dem Gedächtnis zu streichen ist. Ich würde unverzüglich noch mehr über die fantastischen Bilder dieses Abends erzählen. Aber das größte Lob für ein absurdes Theaterstück ist es, wenn der Kritikerin die Worte fehlen, um zu beschreiben was sie gesehen hat.

Ein Juwel der russischen Literatur und der freien Theaterszene!