„Das schwarze Wasser“ – Wenn ich erwachsen bin, werde ich…

22. Februar 2016 - Simone Mohr

Liebestrunken träumen Ministersohn Frank und Gastarbeiterkind Leyla von ihrer gemeinsamen Zukunft als Nachtwächter. In jener Nacht, als sie sich im Freibad begegnen. Damals überwinden Frank und seine Freunde Olli, Cynthia, Freddy und Kerstin sowie Leyla mit Murat, Karim und Ayse nicht nur den hohen Zaun zum Freibad, sondern auch ihre sozialen und kulturellen Gegensätze. Anstatt sich zu prügeln, verschmelzen die zwei Teenagergruppen zu einer Einheit und verbringen eine scheinbar unendliche, magische Nacht im „schwarzen Wasser voller Sterne“. Ein Erlebnis, an das sie sich noch zwanzig Jahre später erinnern.

„Kurze Pause.“

Mit diesen Worten kennzeichnen die sechs Darsteller die unvermittelten Zeitsprünge von der Vergangenheit in die Gegenwart und umgekehrt, vom Heute in die Erinnerung. Zwanzig Jahre später. Vorbei der Traum vom Nachtwächterdasein. In der Realität tritt Frank in die Fußstapfen seines Vaters, indem er Minister wird. Leyla hingegen, die aus einer Familie mit Migrationshintergrund stammt, ist Kassiererin. Cynthia, nun Franks Frau, ist inzwischen Lehrerin, Murat hat den Döner-Imbiss seines Vaters übernommen und Ayse arbeitet als Sprechstundenhilfe in Kerstins Zahnarztpraxis. Plötzlich erscheinen die Lebenswege der einst noch jugendlichen Träumer, denen alle Türen offen zu stehen schienen, als determiniert durch ihre soziale Herkunft. „Bildung ist alles“, ist die Auffassung des Innenministers im Stück. Doch was ist mit Chancengleichheit?

In der Gegenwart nimmt die künftige Schuldirektorin Cynthia Leyla bei ihrem Einkauf im Supermarkt nicht einmal wahr. Doch als Frank Leyla auf der Straße wiedererkennt, fängt diese an zu weinen. Er geleitet sie zu ihrer Wohnung, derselben Wohnung, in die er sie schon vor zwanzig Jahren brachte, doch zwischen ihnen scheint eine unüberwindbare Distanz. Parallelwelten treffen aufeinander. Der Kontrast, der sich in jener paradiesischen Nacht einzig in der Wohnlage widerspiegelte, ist nun allgegenwärtig. „Wir kommen von der anderen Seite!“ rief Leyla Frank einst zu. Ihre gemeinsame Zukunft ist Vergangenheit. Den Liebesbrief von Frank, Leylas Erinnerung an ihre Liebe, als noch keine Herkunft, keine Schulabschlüsse und Bankkonten zählten, gibt Leyla Frank desillusioniert zurück. Vom Himmel fällt in dieser Nacht erneut das titelgebende schwarze Wasser, das sich in Pfützen auf der Straße sammelt. Vielleicht bedeutet es das Ende einer Teenager-Utopie.

Schlichte Bilder, große Wirkung

Bei der Inszenierung im E.T.A.-Hoffmann-Theater konzentriert sich die Regisseurin Sybille Broll-Pape auf das Wesentliche. Abgesehen von Projektionsflächen auf der Bühne, auf denen passend zu den Ortswechseln die im Mond glitzernde Wasseroberfläche eines Freibads oder die Coca-Cola Werbung in der Bar abgebildet werden, sowie türkisch angehauchten Musikstücken mit Gitarre, kann der Zuschauer sich ganz auf die Protagonisten konzentrieren. Und das ist auch gut so, denn die flotten Zeitsprünge zwischen der Nacht vor zwanzig Jahren und der Gegenwart gleichen hochfrequenten Szenenwechseln in Fernsehserien. Sie erfordern Konzentration, tragen aber zur Beibehaltung der Spannung bei und spiegeln die Kontraste der sozialen Sphären wider. Typisch für Roland Schimmelpfennigs narrative Erzählweise wechseln auch Erzählerfigur und Rollen ständig. Gekonnt verkörpern die sechs talentierten Schauspieler alle neun Figuren. Mit wenigen Requisiten zeichnen sie ein Bild gesellschaftlicher Klischees von Jugendlichen aus einfacheren Verhältnissen und denen aus gutem Hause. Amüsant, wie sich nach dem Bad im „schwarzen Wasser“ einzelne Kleidungsstücke an fremden Körpern wiederfinden, während die passende Kleidung im Erwachsenenalter Statusmerkmal ist.

Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Flüchtlingsdebatte regt dieses Stück zum Nachdenken an. Die Inszenierung fordert durch das ganze Theaterstück hinweg regelrecht eine Interpretation. "Das hier gehört allen oder niemandem“, sagt Leyla in der Diskussion, wer zuerst im Freibad war. Eine Anspielung auf die Aufnahme von Geflüchteten im „eigenen“ Land oder eine pathetische Äußerung einer Betrunkenen? Auch Cynthia äußert sich im Kebab-Laden: „Wir müssen uns zusammentun. Gemeinsam sind wir stärker, nur so können wir überleben.“ Ein Aufruf oder nur eine mögliche Lesart?

Die Interpretation und Meinungsbildung obliegt den Zuschauern, die das Stück im E.T.A.-Hoffmann-Theater noch am 12.3., 13.4. und 14.4. besuchen können.

Bild: Martin Kaufhold